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Birgit’s German translation of Antoine Jaulmes’ fantastic article on Europe today, its history and where we should go from now. Printed with permission of CAUX-Initiatives of Change – do look at their website and get involved with their work. This article was originally published in the Swiss newspaper Le Temps.

There will be a 2-day seminar entitled Addressing Europe’s Unfinished Business at Caux this summer (follow this link for information in French, German and English.)

French article here.
English translation here.

Ein unvollendetes Europa im Angesicht der Spannung wieder aufleben lassen

von Antoine Jaulmes*

Die Invasion der Krim durch Russland offenbart die Anhäufung von Spannungen zwischen den einzelnen ethnischen Gruppen in Europa. Könnte es sein, dass die passende Antwort darauf – mit besonderem Augenmerk auf die konkrete Regelung von Fragen, die die kulturelle und ethnische Identität seiner Volksgruppen betreffen – in einer Wiederbelebung des europäischen Friedensprojekts zu suchen ist?

Die ebenso brutale wie plötzliche ukrainische Krise erinnert uns an dunkle Ereignisse der dreißiger Jahre, wie die einseitige Remilitarisierung des Rheinlands oder die Annexion des Sudentenlands durch Deutschland – sogar Hillary Clinton hat den Vergleich gewagt. Aber wie kann sich eine scheinbar friedliche Lage so schnell verschlechtern und uns fast achtzig Jahre zurückwerfen?

Illusion eines friedlichen Europas

Wir sind ganz einfach zu Opfern einer selbstverschuldeten Blindheit geworden. Die wichtigsten Länder Westeuropas und ihre führenden Politiker wollten an ein friedvolles Europa glauben, während die Wunden, die man sich im Laufe der zahlreichen historischen innereuropäischen Konflikte gegenseitig zugefügt hatte, weiter schwärten. Natürlich war die deutsch-französische Aussöhnung besonders augenfällig und sicherlich verlief der Aufbau der Europäischen Union dank des deutsch-französischen Impulses und anderer Beitritte aus Überzeugung, wie der des Italieners Alcide de Gasperi, des Niederländers Willem Drees oder des Belgiers Jean Rey, schnell und weitgehend.  Aber dennoch hat all das weder den Nordirlandkonflikt gelöst noch dazu beigetragen, den Groll der Volksgruppen im ehemaligen Jugoslawien oder im Kaukasus beizulegen. Ungelöst sind bis heute auch die Teilung Zyperns, der griechisch-türkische Konflikt, das Problem der Roma-Bevölkerungsgruppen und der ungarischen Minderheiten in Mitteleuropa und, was heute unbestritten ist, das Schicksal der russischen Minderheiten in den Ländern der ehemaligen UdSSR…

Seit dem Fall der Berliner Mauer vor fünfundzwanzig Jahren fanden in Europa mehr als dreißig bewaffnete Auseinandersetzungen statt. Kein anderer Kontinent hat mehr Konflikte aufzuweisen, die auf die Problematik der Identität und Autonomie kultureller und ethnischer Gruppen zurückzuführen sind. In einem im November 2008 erschienenen Artikel namens Europe’s Unfinished Business (Europas ungeklärte/ungelöste Fragen)hat John Peet, für das Themengebiet Europa verantwortlicher Redakteur der Wochenzeitschrift The Economist, genau diese Problemstellungen analysiert und die aktuelle Krise auf der Krim sozusagen praktisch vorhergesagt. Die Tatsachen waren also seit mehr als fünf Jahren bekannt.

Durch das Ignorieren dieser existierenden Bedingungen, eingepfercht in die Komplexität des EU-Gemeinschaftsmanagements und mit Wirtschaftsfragen beschäftigt, hat Europa anscheinend den roten Faden verloren, der seine Leitfiguren in den ersten Jahren zusammengeschweißt hatte.

Der verlorene Leitfaden der europäischen Einheit

Die Ziele der europäischen Integration wurden nur ein einziges Mal eindeutig auf den Punkt gebracht, und zwar in einem Text, der weder Gegenstand internationaler Beratungen war noch durch eine Volksabstimmung gebilligt wurde, sondern direkt aus der Feder von Jean Monnet geflossen war. Es handelt sich um die Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950, die sich danach teilweise oder indirekt in den Präambeln der aufeinander folgenden Verträge wiederfand. Dieser Text beschreibt das Ziel einer « Europäischen Gemeinschaft » sehr genau: es geht um den Frieden der Welt, der „schöpferischer Anstrengungen“ bedarf, die der Größe der Bedrohung entsprechen, weil eben das Scheitern der dreißiger Jahre zum Zweiten Weltkrieg geführt hat.  Als Weg zum Fortschritt gibt der Text an, es bedürfe eines konkreten und beschränkten Abkommens der Kohle und Stahl produzierenden Länder, denn „Europa lässt sich nicht plötzlich aufbauen, auch nicht durch den Bau eines Gesamtgefüges“. Er geht weiterhin davon aus, dass die Gemeinschaft um alle Länder erweitert werden müsse, die daran teilnehmen wollen, sie sich „zur Erhöhung des Lebensstandards und zur Entwicklung der Friedensarbeit“ der ganzen Welt gegenüber öffnen müsse, insbesondere, aber nicht ausschließlich, in Afrika, und dass schliesslich eine neue Hohe Behörde, deren Entscheidungen für die Beitrittsländer bindend seien, den ersten Grundstein einer „Europäischen Föderation“ bilde, der zur Bewahrung des Friedens unerlässlich sei.

Dieser Text ist die Grundlage der europäischen Einigung, sowohl historisch als auch ideologisch – das Datum des 9. Mai wurde nicht zufällig zum „Europatag“ gekürt. Die Wirtschaft wird hier klar in den Dienst des Friedens gestellt, weil durch sie zukünftige Kriege sowohl „unmöglich“ als auch „undenkbar“ werden.

Weil man es versäumt hat, diesen Ursprung europäischen Elans an die Bürger weiterzugeben, ist sie heutzutage zu weiten Teilen in Vergessenheit geraten. Zudem ist eine Mitgliedschaft der Herzen, geprägt von Geschichtsverständnis, der Kenntnis der Partner und dem Respekt vor den Unterschieden, ernsthaft zum Erliegen gekommen.  Trotz schöner symbolischer Gesten, wie am 11. November 2009, als das Gedenken an den Waffenstillstand im Beisein von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy militärische Einheiten aus Deutschland und Frankreich in Paris zusammenführte, lässt sich der Geist Europas kaum mehr umsetzen.  Noch schlimmer ist jedoch, dass das europäische Projekt nicht einmal mehr für die in Europa immer noch so zahlreichen Teilungen und Rivalitäten passende Antworten bereithält. Es bedarf also neuer „schöpferischer Anstrengungen“, die der Größe der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts entsprechen.

Ethnizismus (Volkstumsbewegung) als neue Spielart des Nationalismus

Die wichtigste Herausforderung scheint mir der Ethnizismus zu sein, eine weiterentwickelte Form des Nationalismus. Der hundertste Jahrestag des Ersten Weltkriegs erinnert uns zum richtigen Zeitpunkt an die Verheerungen, die im Namen des Nationalismus begangen worden sind. Während die europäische Idee, die es den Nationen erlaubte, bis hin zur schrittweisen Integration gegenseitiges Kennenlernen und Respekt zu erlernen, wie eine Reaktion des Herzens und des Geistes auf die Verheerungen des Nationalismus aussah, entstand eine andere Alternative zum Nationsgedanken: der Ethnizismus, ein Wiederaufleben vornationaler Identitäten, welches an das appelliert, was die Völker unter rein kulturellen und stammesspezifischen oder auf ethnische Gemeinschaften bezogenen Gesichtspunkten vereint.

Der Ethnizismus bedroht heute das Fortbestehen mehrerer europäischer Staaten: der Ukraine, Belgiens, Spaniens, des Vereinigten Königreichs, der baltischen Staaten, Moldawiens, Rumäniens, der Slowakei, Bosniens und so weiter.  Wie weit müssten die europäischen Nationen in kleinste Stücke aufgeteilt werden, damit dieses Identitätskonzept funktionsfähig werden kann? Und bei wem liegt die Staatssouveränität? Wieviel ethnischer Säuberung müsste man zustimmen, um ein paar hoheitliche Grenzen mit den Kulturen in Einklang zu bringen? Müsste man dann die möglichen  Ansprüche von Nationen, deren Kulturraum sich über die Grenzen hinweg erstreckt, wie beispielsweise im Fall von Ungarn oder Russland, legitimieren und damit Dutzende von potentiellen Konflikten neu entflammen? Konfrontiert mit diesem Un-Sinn muss Europa einerseits verstärkt daran erinnern, dass ein ethnischer Weltblick ein gefährlicher Wunschtraum ist, und andererseits sicherstellen, dass für die Probleme jeder Minderheit jedes europäischen Landes eine Lösung gefunden wird. Das Vertrackte an dieser Situation ist jedoch, dass der Ethnizismus, ebenso wie ein überzogenes Souveranitätsdenken, über eine größere Anzahl glühender Verbreiter zu verfügen scheint als der Geist der europäischen Integration.

Bestätigung einer europäischen Identität auf der Grundlage eines Friedensprojektes

Wenn die Europäer heute anfangen, an Europa zu zweifeln, liegt dies nicht daran, dass ihnen die historischen Tatsachen, die aus Europa gleichzeitig eine große Ansammlung von verwandten Zivilisationen, ein riesiges Schlachtfeld und zuletzt einen Kontinent auf der Suche nach seiner Einheit gemacht haben, nicht geläufig wären. Es handelt sich bei diesen Tatsachen um eben jene Bausteine der europäischen Identität, die den Elementen einer nationalen Identität hinzuzufügen gewesen wären.

Es gab sicherlich zu wenige Fortschritte auf dem Weg zu einer direkten Demokratie, und auch die nach wie vor allzu begrenzten Befugnisse des Europäischen Parlaments behindern die demokratische Inanspruchnahme Europas durch seine Bürger. Aber was soll man zum Beispiel von der zutiefst nationalistisch geprägten Rhetorik halten, die in Tausenden von Gedenkfeiern, auch 69 Jahre nach dem Ende des letzten Weltkriegs noch zu spüren ist ?

Ich habe in diesem Zusammenhang im Juni 2013 anlässlich der letzten Gedenkfeier des 8. Mai 1945, an der ich teilgenommen hatte, an den französischen Minister der Kriegsveteranen appelliert, der mir bisher nicht geantwortet hat. Der den Grundschulkindern vorgelesene Text des Ministers schien die Gesamtheit der Gräueltaten den Deutschen zuzuweisen. Wäre es nicht gerechter gewesen, daran zu erinnern, dass es, zugegebenermaßen unter extremen, zum Großteil auf die Nazi-Ideologie zurückzuführenden Umständen, auf beiden Seiten Gräueltaten gegeben hat?  Auch das außerordentliche Leiden der Zivilbevölkerung und der zahlreichen Opfer, die der Konflikt unter ihr gefordert hat, wurden nicht angesprochen. Wenn wir nur über Fakten sprechen, die mit Waffen und « Sieg » zu tun haben, vergessen wir die Tatsache, dass jene, die zu den Waffen gegriffen haben, durch außergewöhnliche Umstände dazu gezwungen wurden. Wir vergessen den maßlos übertriebenen Preis an Menschenleben, der für diesen Konflikt bezahlt wurde, und wir vergessen, an jene Ablehnung der Fatalität des Krieges zu erinnern, die Europa begründet hat.

Es besteht durchaus die Gefahr, dass das Jahr 2014 vergeht, ohne dass die Botschaft unserer patriotischen Feierlichkeiten mit unserer Außen- und Verteidigungspolitik in Einklang gebracht wird, und ohne dass man über diese gemeinsame Basis eines Geschichts- und europäischen Staatsbürgerunterrichts nachgedacht hat, an dem es uns mangelt.

Auch wenn das Ministerium der Kriegsveteranen sich nicht darum kümmert, sollte dies doch zumindest einer gemeinsamen europäischen Politik aller Mitgliedsstaaten am Herzen liegen und von den jeweiligen Ministerien für Erziehung und Bildung umgesetzt werden.

Aber Frieden ist nur mit Gerechtigkeit möglich und auch Spannungen zwischen ethnischen Gruppen müssen gelöst werden, denn die Rechte von Minderheiten dürfen nicht ignoriert werden.

Friedliches Zusammenleben von verschiedenen Volksgruppen im gleichen Gebiet

Es gibt in Europa Beispiele kultureller Ansprüche und zufriedenstellender Autonomielösungen durch Verhandlungen. Ich möchte an dieser Stelle einen Fall darstellen, in den die NRO „Initiativen der Veränderung“, deren Schweizer Vorsitzender ich bin, direkt verwickelt war. Es handelt sich um den Fall der Sezessionsbewegung in der Region des Alto Adige (bzw., für den deutschsprachigen Raum, Südtirol). Am Ende der sechziger Jahre verschlechterte sich dort die Lage. Nachdem  dieses vollständig deutschsprachige Gebiet nach dem Ersten Weltkrieg den Österreichern abgenommen und den Italienern zugesprochen worden war, wurde er von den Faschisten einer rigorosen Zwangspolitik der Italienisierung unterzogen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich die deutschsprachigen Südtiroler eine Wiederherstellung ihrer Rechte erhofft, aber der ihnen im Jahre 1947 zugeteilte Status erwies sich als enttäuschend und wurde von den italienischen Behörden mit wenig Eifer umgesetzt. Aktivisten fingen an, Bombenattentate zu organisieren, von denen zwischen 1956 und 1968 insgesamt 261 stattfanden. Heutzutage hat die Region jedoch Modellcharakter – so sehr, dass die Öffentlichkeit noch nicht einmal mehr weiß, dass es sich hier potentiell um eine Situation wie in Nordirland oder im Baskenland gehandelt hat. In der Zwischenzeit waren unter der Führung der Leitfiguren beider Volksgruppen, dem italienischsprachigen   Armando Bertorelle und dem deutschsprachigen Silvius Magnago, die ein Vertrauensverhältnis entwickelt hatten, bezüglich der sozialen und kulturellen Konflikte, der Verletzungen aus der Zeit  des Faschismus, des aus der unvollständigen Anwendung der bisherigen Statuten geborene Misstrauens usw. ein Heilungsprozess in Gang gebracht worden. Im Jahre 1971 genehmigten die italienischen und österreichischen Parlamente endlich Gesetze, welche die Autonomie der deutschsprachigen Gemeinschaft umsetzten. Wie in einem 2007 erschienenen Bericht der interparlamentarischen  Gruppe zur französisch-italienischen Freundschaft erwähnt wurde, ist der Autonomiestatus des Alto Adige im Schoße der italienischen Republik weiterhin eine mögliche Quelle der Inspiration für ähnliche Situationen.

Der österreichische Außenminister Alois Mock hatte mitten im jugoslawischen Konflikt daran erinnert und nannte die Anwendung des neuen Status einen „Meilenstein in der Geschichte Europas“, mit Hilfe derer ein Modell geschaffen wurde, bei dem die betroffenen Parteien demokratische Grundsätze befolgen und auf den Einsatz von Gewalt verzichten.  Im April 2007 schlug der sich um ein Abkommen mit Serbien über die Unabhängigkeit des Kosovo bemühende österreichische Bundeskanzler Alfred Gusenbauer vor, dieses Modell im Norden des Kosovo, wo viele Serben wohnen, anzuwenden. Es ist bekannt, dass man nicht auf ihn gehört hat. Stattdessen musste sich die serbische Regierung dem amerikanischen Druck beugen und ihre russischen Verbündeten wurden gedemütigt. Diese führen uns heute ihre Pläne einseitiger Unabhängigkeit in Abchasien und auf der Krim vor, so „als ob es der Kosovo wäre“.   Dies zeigt hingegen, dass die einzig sinnvolle Methode in diesem Bereich geduldige Verhandlungen über regionale Teilautonomie unter Respektierung demokratischer Grundsätze gewesen wären.

Eine Bitte an europäische Politiker und Politikerinnen

Die Bestätigung einer europäischen Identität, welche auf einer Vorstellung von Frieden unter den Nationen basiert, als auch Kapazitätsentwicklung auf dem Gebiet der Regelung verschiedener europäischer ethischer Konflikte in einem angepassten institutionellen Rahmen – dies sind die beiden Schwerpunkte, die Europa umgehend konkret angehen muss, um akute oder latente Krisen zu lösen und sich im Sinne der Gründer Europas nachhaltiger zu vereinen und erneut Unterstützung seiner Bürger zu finden.  Es handelt sich hier um eine Weiterentwicklung von Geisteshaltungen, um eine neue politische Reife, die es zu erlangen gilt und um ein prioritäres Ziel, das sich europäische Politiker und Politikerinnen heute setzen müssen.

* Antoine Jaulmes ist ehrenamtlicher Präsident der Schweizer Stiftung CAUX-Initiativen der Veränderung, die seit 1946 alljährlich Begegnungen organisiert, die vor allem in Europa zur Förderung der Versöhnung und verantwortungsvollen Staatsführung beitragen sollen. Die Stiftung CAUX-Initiativen der Veränderung ist Mitglied der internationalen NRO Initiativen der Veränderung, die bei Ecosoc (UN) und dem Europarat einen beratenden Status innehat.

 

 

 

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